Tugenden als Alternative zur Regelgläubigkeit

von Julio

(Kurzversion, 29. März 2020)

Besucherinnen* unserer Veranstaltungen kennen unsere „Neun Tugenden“, die stichwortartig auch auf der Website veröffentlicht sind. Tugenden werden oft als Regeln missverstanden, vor allem in einer christlich sozialisierten Welt. Auch bei unseren Tugenden passiert das. Dann heißt es etwa: „Wie geht noch mal Eure Regel zu Stil?“

Das liegt daran, dass seit dem 16. Jahrhundert die „Zehn Gebote“ der Bibel das logische Modell waren, mit dem hierzulande Moral verstanden wird: „Stehle nicht! Ehebreche nicht!“ Gläubige, aber auch Menschen, die sich selbst als Materialisten oder Atheisten bezeichnen, verstehen seitdem Moral in der Form von Gesetzen und Regeln – mit dem Unterschied, dass die einen sich Gott als Gesetzgeberin solcher Verordnungen vorstellen, die anderen die Vernunft. Grob gesprochen gelten Handlungen dann als vernünftig, wenn sie auf überzeugenden Regeln beruhen. Der Glaube, dass Regeln das Entscheidende sind, um Zwischenmenschliches in gute Bahnen zu lenken, ist auch bei den Besucherinnen der Werkstatt weit verbreitet.

Tugenden sind eine Form von Moral ohne Regeln

Regeln sind in manchen Lebensaspekten durchaus wichtig, aber wenn ihre Bedeutung überschätzt wird, entsteht die moderne Regelhörigkeit. Je nach soziokulturellem Lager beklagen dann die einen, dass die Friday-for-Future-Schülerinnen sich nicht an die Schulpflicht halten, während die anderen durch umfangreiche Benimmregeln versuchen, Kongresse zu „SafeSpaces“ zu machen. Das Problem: Regeln müssen interpretiert und auf konkrete Situationen angewendet werden. Wirkt die Situation unklar, dann scheint es, dass die Regeln unvollständig sind und durch weitere Anwendungsregeln konkretisiert werden müssen. Letztendlich haftet aber jeder Regelanwendung etwas Unklares an und ruft nach zusätzlicher Regelung. Auf politischer und behördlicher Ebene zeigt sich dieser Mechanismus im Bedarf nach spezifischeren Gesetzen und Anordnungen. In der modernen Welt ist die Verrechtlichung der Lebenswelt eine Zwillingsschwester der Kommerzialisierung.

Tugenden sind keine Regeln. Wir können sie als Einstellungen oder Haltungen verstehen, die von einer Gruppe gewünscht werden, weil sie für alle ein gutes Leben ermöglichen. Eine Haltung ist eine bestimmte Art und Weise, wie ein Mensch sich in dieser oder jener Situation verhält – ein Handlungsmuster also. Wer z.B. die Tugend der Wertschätzung ausübt, wird sein Gesprächsgegenüber nicht mit aufdringlicher Selbstdarstellung langweilen.

Tugenden sind Handlungs- und Reaktionsmuster, die in unterschiedlichen Situationen einen ähnlichen Stil des Handelns beinhalten. Von schlichten Gewohnheiten wie z.B. dem Rauchen unterscheiden sich diese Handlungsmuster dadurch, dass sie von einer Gruppe von Menschen als wertvoll für ein gutes Leben betrachtet und deshalb kultiviert und vermittelt werden. Wertvoll sind Tugenden, weil ihre Ausübung wichtige Dinge ermöglicht, z.B. uneigennützige Freundschaften, medizinische Behandlungen bei Epidemien oder Widerstand gegen Diktatoren.

Wie lernt man Tugenden?

Auch bei der Corona-Krise spielen Tugenden eine Rolle: Bildung hilft, die Wirkung der Virusverbreitung abschätzen zu können und die Effekte der Krankheit nicht leichtfertig zu unterschätzen. Mut und Aufopferung zeigen jene Krankenpflegerinnen in Italien, die bis zur absoluten Erschöpfung die Patienten betreuen. Sorgfalt und kritisches Denken helfen, die Verbreitung von Fake News und Hetze zu stoppen. Mäßigung und Umsicht äußert sich darin, dass man freiwillig zuhause bleibt und sich nicht in größeren Gruppen trifft.

Tugenden lassen sich durch Geschichten, Beispiele und Hinweise vermitteln. Selbst Regeln sind bisweilen nützlich, um Ungeübten eine Tugend zu erklären. Ihre Rolle ähnelt dabei den Hinweisen in Benimmratgebern: Bücher wie der Knigge vermitteln keine Gesetze (auch wenn sie das manchmal beanspruchen), können aber im besten Fall vorläufiges Orientierungswissen für diejenigen liefern, die über kein selbstbestimmtes und informiertes Stilempfinden verfügen. Auch die Stichwörter und kurzen Aufforderungssätze, die sich auf der Website unter den Begriffen „Wertschätzung“ oder „Civility“ finden, sollten also nicht als Gebote, sondern lediglich als Hinweise, Andeutungen und Veranschaulichungen verstanden werden.

Welche Handlungsmuster als wertvoll für ein gutes Leben betrachtet werden, hängt von der Lebenssituation einer Gemeinschaft ab: Die sozialen Verhältnisse spielen eine Rolle, ebenso der Stand der Technik, ökologische Bedingungen, der Lebensunterhalt und die Wirtschaftsstruktur. Unterschiedliche Lebensumstände lassen unterschiedliche Tugenden in den Vordergrund treten. In Kriegergesellschaften, etwa bei den Wikingern, waren Tapferkeit und Listigkeit zentral. Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet betonten dagegen Solidarität, Kameradschaftlichkeit und Fleiß.

Die Tugenden der Apparate: Das Beispiel Donald Trump

Vor allem komplexe Institutionen sind auf Tugenden angewiesen. Keine Intensivstation kann ohne die Tugend der Sorgfalt funktionieren, kein Forschungsinstitut ohne wissenschaftliche Redlichkeit. Um zu gedeihen und ihrer Bestimmung gerecht zu werden, benötigen Familien, Freundeskreise, aber auch Unternehmen, Gewerkschaften, Behörden immer mehrere Tugenden zugleich. Man kann dieses Bündel an unterschiedlichen Tugenden, die zusammenhängen und ineinandergreifen, als das „Ethos“ einer Gruppe bezeichnen. Je nach sozialer Gruppe dauert es Jahre, bisweilen Jahrhunderte, ein Ethos herauszubilden. Das Bündel an Tugenden, die z.B. für den Betrieb von modernen Universitäten notwendig sind, wurde in den mittelalterlichen Klöstern und Domschulen entwickelt.

Ein Beispiel, wie Institutionen durch ein Ethos geprägt sind, ist der Ukraine-Skandal um Donald Trump. Der US-Präsident erpresste anscheinend die neu gewählte Regierung der Ukraine, die dringend Hilfsgelder benötigte. Er verlangte, dass sie offiziell juristisch gegen Jo Biden ermittelte, Trumps mutmaßlichen Konkurrenten bei der nächsten Präsidentschaftswahl. Das betrachteten zahlreiche Beamte, die in den US-Behörden für Aussenpolitik arbeiteten, als ein Amtsmissbrauch für persönliche Zwecke, und zeigten den Vorgang an. Man kann das als einen Konflikt zwischen einem gehobenen Beamtenapparat, der über Jahrzehnte eine bestimmte Auffassung zu Rechtschaffenheit bei der Amtsführung ausgebildet hat, und einer neu gewählten politischen Führung deuten, die Loyalität als wichtigste Tugend ansieht.

Strukturen und Institutionen können durch falsche Anreize oder (stillen) Zwang auch schädliche Handlungsweisen verbreiten. Patriarchale Dominanz sorgt z.B. dafür, dass bedächtigeres Kommunikationsverhalten und weibliche Expertise nicht zum Zuge kommen. Und der Profitzwang im Betrieb von Krankenhäusern führt zu mangelhafter medizinischer Betreuung. Strukturen und Institutionen können meistens nur durch kollektive, koordinierte Aktivitäten von größeren Menschengruppen ausgehebelt oder verändert werden. Selbst wenn Widerstand von Einzelnen bisweilen wirksam sein kann, ist hier eher die Tugend der Solidarität in der Gruppe gefordert.

Lebensmilieus und ihre Tugenden

Damit Menschen sich fruchtbar darüber verständigen können, welche Errungenschaften für ein gutes Leben wichtig sind und welche Tugenden dafür kultiviert werden müssen, müssen ihre Herausforderungen und Lebenssituationen hinreichend ähnlich sein.
Nonnen in einem überalterten Karmeliterinnenkloster haben in zentralen Lebensbereichen andere Anliegen als ein junges Studenten-Paar, das sich für eine nichtmonogame Partnerschaft entschieden hat. Je konkreter Menschen durch gemeinsame Aufgaben und die Verantwortung für gemeinsame Einrichtungen miteinander verbunden sind, desto mehr Bedarf nach geteilten Tugenden besteht. Es stimmt zwar, dass wir alle von Tod und Alter betroffen sind, dass Liebe oder Kindererziehung überall knifflig sind. Einige fundamentale Tugenden (wie z.B. Einfühlungsvermögen) sind vermutlich überall wertvoll. Doch meistens entdeckt man nur Banalitäten, wenn man nach einem alles übergreifenden Ethos Ausschau hält (man denke an die „deutschen Tugenden“). Ein bedeutungsvolles Ethos bildet sich immer nur in spezifischen sozialen, weltanschaulichen oder beruflichen Gruppen mit charakteristischen Lebensbedingungen aus. Wir können eine solche Gruppe als Milieu bezeichnen.

Damit ein Milieu einen Ethos ausbilden und verfeinern kann, benötigt es eine Kultur des Nachdenkens und Diskutierens. Zu letzterer gehört z.B. die Bereitschaft und Fähigkeit zum Zuhören (auch den Leisesten), zum Perspektivenwechsel, zum Durchschauen eigener Vorurteile, zur Selbstkritik, zur Redlichkeit, zur Überprüfung von Gerüchten, zum Verzicht auf Druck und unredliche Manipulation. Auch Freundlichkeit, Taktgefühl, Augenmaß, Realismus, Phantasie, Sensibilität, Bildung, Weisheit, Wachheit und Differenziertheit sind dafür notwendige Tugenden.

Unsere aktuelle Lebensbedingungen verändern sich massiv: durch Klimawandel und Umweltzerstörung, durch die Digitalisierung des Alltags, durch Lebensbeschleunigung, durch den Rückgang der Industriearbeitsplätze, durch Migration, durch Verstädterung, durch die Emanzipation der Frauen, durch serielle Monogamie und durch sexuelle Selbstbestimmung, wahrscheinlich auch durch die durch COVID19 verursachte Wirtschaftskrise. Wir sind gefordert, unsere Handlungsmuster und Institutionen daran anzupassen. Wohlmeinende Experten aus ThinkTanks, Regierung und Wirtschaft ersinnen Instrumente, um die Bevölkerung zu gewünschtem Verhalten anzuleiten. Doch gute Lebensformen können die Menschen nur dadurch schaffen, dass sie selbst angemessene Reaktionen auf die Umwälzungen unserer Lebenswelt finden.

Tugenden als Alternative zur Durchpsychologisierung des Alltags

Das ein Milieu faktisch ein eigenes Set an Tugenden ausbildet und kultiviert, bedeutet aber nicht, dass es diese angemessen beschreiben kann. Das Vokabular, mit dem man Tugenden beschreibt, ist eine recht alte Sprache, um stabile Verhaltensweisen zu bewerten und zu etablieren. Im modernen Westen hat sich neben der christlichen Sprache der Regeln und Gebote noch die psychologische Sprache durchgesetzt, die ebenfalls genutzt wird, um Verhaltensgewohnheiten zu formen. Ein Großteil der Angehörigen der westlichen Mittelschichten kann sich heute nicht vorstellen, dass man Gefühle, Absichten, Gewohnheiten und Schwächen nicht in einem psychologischen Vokabular beschreibt. Viele benutzen eine psychologisierte Alltagssprache und halten Wörter wie Traumata, Beziehung, Bindung, Unterbewusstes für ganz normal. Vor allem Menschen aus dem alternativen Milieu verstehen dabei nicht, warum Dichterinnen und Romanciers diese Sprache oft als hässlich, steril oder diagnostisch-manipulierend ablehnen.

Die psychologisierte Alltagssprache erweckt den Anschein, jede alltägliche Verhaltensweise moralfrei und neutral analysieren zu können. Zugleich liegt den beiläufig verwendeten Psychofachbegriffen aber ein starkes Menschenideal darüber zugrunde, was gesund, heil und erwachsen ist. Das liegt an der Herkunft der psychologischen Wissenschaft, die in der christlichen Seelenkunde und Beichtlehre des 17. Jahrhundert sowie den Frühformen der Kriminalwissenschaften wurzelt. So wie in der christlichen Lehre von der Ursünde jeder Mensch das Böse in sich trägt und um sein Heil ringen muss, so liegt der Psychologie die Sorge um die Gesundheit der Seele zugrunde, die immer schon durch die Umgebungswelt beschädigt ist. Was in einer Zeit jeweils als „gesund“ deklariert wird, entspricht grob der Alltagsmoral der Gesundheitsexpertinnen.

Die Sprache der Tugend funktioniert dagegen ohne die Idee des beschädigten oder sündigen Menschen. Es geht bei ihr darum, wie man ein gutes Leben führt, im doppelten Sinne: Gut im Sinne von „fördert das Wohlergehen“ und gut im Sinne von „vortrefflich „. Klar ist, dass dafür ein ganzes Bündel an Handlungsmustern notwendig ist. Manche Verhaltensgewohnheiten kann man für sich alleine kultivieren, andere sind nur wirksam, wenn sie kollektiv umgesetzt werden. Das Nachdenken und Urteilen, welche Handlungsweisen gefördert werden sollte, beruht dabei auf gemeinsamen Standards und auf Expertise. Fachexpertinnen, auch psychologische Expertinnen, können dabei Wissen oder Einschätzungen beisteuern. Aber sie haben gegenüber Laien keine herausgehobene Lebenskompetenz darüber, wie das Bündel an Tugenden aussehen sollte, das eine menschliche Gemeinschaft kultiviert.

Niemand hat das, auch nicht die Götter.