Wissen

Neue Wissenskerne für eine andere Welt

Wenn heute über Wissen geredet wird, dann gerne in Form von Ausbildung. Das betrifft Wissen, welches in Schulen (oder den schon längst zu Schulen mutierten Universitäten) beigebracht werden kann. Uns interessiert aber, wie Menschen darin eingeübt werden, neues Wissen hervorzubringen. Denn das ist es, was wir brauchen, wenn wir unsere ökologische Unterentwicklung hier in den Industrieländern überwinden wollen. Wir planen ein Pilotprojekt für ein Wissenszentrum neuen Typs, das in lokalen Gemeinschaften weitgespannt Bildung pflegt und kultiviert, und so den Wissensgrundstein für einen umfassenden Wandel unserer Lebensgrundlagen legt.

Baby-Puppe mit SägeFür den enormen Verbrauch an Ressourcen, den unser Lebensstil in den Industrieländern bereits jetzt verursacht, ist unser Planet nicht gemacht. Wenn jetzt die Länder auf dem Süden unserer Erdkugel (zurecht!) darauf bestehen, für ihre Bevölkerung alle Annehmlichkeiten zu entwickeln, die wir hier im reichen Norden genießen, dann ist das mit unserer bisherigen Lebensweise nicht möglich. Zudem stellt uns der Kampf für die Eindämmung und Begrenzung des Klimawandels vor eine enorme Herausforderung: Unsere technologische Infrastruktur ist mit dem Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen aufs Engste verbunden. Unsere Energieversorgung beruht z.B. vollständig auf Verbrennung, ob beim Wärmen unserer Häuser und Fabriken, dem Befeuern unserer Fahrzeuge oder dem Erzeugen von Strom. Seit der industriellen Revolution nutzen wir die immer gleiche Grundtechnologie, deren Folgen uns mittlerweile in schwere Bedrängnis bringen. Die globale Erwärmung können wir bereits nicht mehr verhindern, sie findet statt. Doch wenn wenn wir allein schon die globale Erwärmung des Klimas auf maximal 2° Grad Celsius begrenzen wollen, um die allerärgsten Katastrophen zu verhindern, werden wir in den Industrieländern des Nordens mehr als 80% unseres Ausstoßes an Treibhausgasen reduzieren müssen.

Allein Verzicht und Selbstbeschränkung zu predigen, ist keine Lösung. Was wir brauchen, sind neue intelligente Lebensgrundlagen, die mindestens so viel Erleichterungen, Annehmlichkeiten, Spass und Freude machen wie das, was wir bisher durch die moderne Zivilisation gewinnen konnten. Menschen werden nicht auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft verzichten. Nötig ist also eine neue industrielle Revolution, die, ähnlich wie die erste industrielle Revolution vor zwei Jahrhunderten, unser Leben radikal umkrempelt. Allerdings geht es nun nicht wie damals darum, unsere Arbeitsproduktivität zu vervielfachen, sondern unsere Sparsamkeit und Intelligenz: Neuartige ressourcensparende Lösungen für alle unsere Lebensbereiche, sei es nun für Haushalt, Fortbewegung, Verständigung, Wärme, Wasser, Licht usw. Das ist die moderne Rückständigkeit.

Und was hat das mit Bildung zu tun? Um den Zusammenhang zwischen Bildung und Revolution unserer Lebensgrundlagen besser zu verstehen, ist ein Ausflug in die Geschichte notwendig: Vor zwei Jahrhunderten musste Deutschland – genauer gesagt: Preußen – die Wahl treffen, mit welchen Mitteln die damalige Rückständigkeit des Landes überwunden werden konnte: Technologisch, industriell und auch militärisch war das einst mächtige Land von dem französischen Revolutionsstaat Frankreich und dem britischen Empire abgehängt. Die Wissenschaft und die Hochschulen lagen danieder. Die Frage war, ob man den französischen Bildungsweg gehen sollte, der durch die in der Revolutionszeit gegründeten École Polytechnique ein Heer an hochausgebildeten Technikern und Ingenieuren schuf. Das französische Modell war eine sehr effiziente Ausbildung, bei der Übernahme von Wissen, das durch geschulte Lehrer aufbereitet und perfektioniert wurde. Getrennt davon war die Forschung, die wissenschaftlichen Spitzeninstitutionen überlassen werden sollte.

Der französische Ansatz schien augenscheinlich die wissenschaftliche Produktivität des Landes enorm zu beschleunigen. Damals setzte sich jedoch in Preußen ein Bildungsreformer und Gelehrter durch, der einen ganz anderen Weg beim Aufbau von Bildungsinstitutionen verfocht – Wilhelm von Humboldt. Zuallererst unterschied er zwischen dem Prinzip der Schule und dem Prinzip der Universität:

„Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der [von Humboldt entworfenen] höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als etwas noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. … Dies vorausgeschickt, sieht man leicht, dass bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten Alles darauf beruht, das Princip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen.“

Frauenstatue vor Büro Schule übermittelt fertige Kenntnisse, Wissenschaft ist dagegen ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Humboldt ging es darum, das Hervorbringen von Wissen zu fördern, nicht die Übermittlung von Wissen zu perfektionieren. Das Land sollte beflügelt werden durch Wissenschaftler, die geschult sein sollten in Kreativität, Nachdenklichkeit und Eigenständigkeit. Dafür sei das schulische Modell aus Frankreich, bei dem Wissen von oben nach unten effizient weitergegeben wurde, nicht geeignet. Stattdessen sollten die Studenten durch Teilnahme und Mitarbeit an den Forschungsprozessen der Professoren an das Forschen und Nachdenken selbst herangeführt werden. Das ist die Bedeutung des Mottos „Einheit von Forschung und Lehre“. Wilhelm von Humboldt glaubte, dass Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Fähigkeit zu Kritik und theoretischem Nachdenken, fächerübergreifende Bildung und ein geistiger Horizont, bei dem mensch sich als Bürger der ganzen Welt versteht, besser geeignet seien, wissenschaftlich erfolgreich zu sein. Mit der Zeit wurde sein Ansatz immer mehr verwässert, aber der Erfolg gab ihm Recht: Spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde deutlich, dass die „nachholende Nation“ in Deutschland eine enorme wissenschaftliche Expertise, Erfindungskraft und Forschungsenergie entfaltet hatte, die seine technologische und wissenschaftliche Spitzenstellung bis in das erste Drittel dieses Jahrhunderts sicherte.

Humboldt ging davon aus, dass als Träger der modernen Gesellschaft eine Schicht vor allen anderen ausgezeichnet sei, nämlich das Bürgertum, und dass die zentrale Institution für anspruchsvolle Bildung wissenschaftliche Hochschulen sein können. Obwohl er sich beim Aufbau des neuen Bildungssystems beeilte und mit Energie an die Umgestaltung der alten Strukturen ging, brauchte sein Ansatz eine geraume Zeit, bis all jene Institutionen und Strukturen aufgebaut waren, die notwendig waren, um die Wissenschaft mit dem notwendigen Schub zu versehen. Sein Projekt war wie eine Dampflokomotive, die langsam anfährt, immer schneller wird und schließlich eine ungeheure Kraft entfaltet.

Heute gehen wir im Gegensatz zu Humboldt davon aus, dass alle Schichten der Gesellschaft, nicht nur das Bürgertum, Träger der modernen Zivilisation sein sollten. Wir sind nicht mehr darauf angewiesen, dass nur unsere Hochschulen intelligente Lösungen für Wissenschaft und Technik entwickeln. Zudem können wir heute wesentlich schneller als früher experimentieren und neue Strukturen und Institutionen aufbauen. Und schließlich ermöglicht uns das Internet, wesentlich schneller von den Erfahrungen anderer zu lernen und Wissen und Know-How auszutauschen. Wenn wir die weise Lösung von Humboldt für die Gegenwart nutzen wollen, um unsere moderne Rückständigkeit zu überwinden, dann muss der Humboldt’sche Ansatz in seiner gesellschaftlichen Basis erweitert werden und die Universitäten verlassen:

Es geht um neuartige, selbstorganisierte Wissenszentren, in denen anspruchsvolles Wissen für Erwachsene kultiviert und hervorgebracht wird, und die nicht als (mehr oder weniger) universitäre oder akademische Einrichtungen verstanden werden sollten, sondern ihren Platz im alltäglichen Lebensumfeld der Menschen haben. Es werden Bildungskerne sein, angesiedelt in unterschiedlichsten städtischen und ländlichen Räumen, in denen von ganz normalen Menschen Wissen erarbeitet wird, wie herkömmliche Lebensweisen in einen nachhaltigen Lebensstil überführt werden können, der zugleich Wohlstand möglich macht. Wenn mensch so will, sind es Volkshochschulen eines neuen Typs, die zugleich den Grundstein für die Entwicklung intelligenter Lösungen für ein ökologisches, sanftes, ressourcensparendes und dennoch modernes Leben legen.

Ziel ist wieder die flächendeckende Heranbildung kreativer selbstbestimmter Forscher, die den Aufbau eines Netzwerkes an Institutionen und Wissensfeldern ermöglicht. Lokale Bedürfnisse und Handlungsfelder werden mit einem globalen Horizont von Ressourcenschonung und Klimaproblematik verbunden, um örtliche Lösungen im Bereich alltäglicher Lebensfelder (Transport, Wohnen, Kochen, Müll etc.) zu entwickeln. Die Hervorbringung von Wissen in diesen außerakademischen Wissenszentren für nachhaltige Lebensweisen, hilfreiche Technologien, Lösungen, Institutionen und Fertigkeiten erfolgt nach dem Prinzip der Teilnahme. Das heißt: Sie begreift Forschung und Lehre als eine Einheit. Und sie erfolgt umfassend: theoretische Reflexion und Interdisziplinarität sind ebenso wichtig wie die Breite der vermittelten Bildung, die sich nicht nur auf technische Disziplinen beschränken darf.

Das Internet ermöglicht dabei die schnelle Vernetzung solcher lokaler Wissenszentren, z.B. über Online-Plattformen. Lösungen und Ideen, die in einer Vorstadt Kölns entwickelt wurden, können für eine lokale Gruppe im Umfeld Rio de Janeiros interessant sein, und Ähnliches mag für ein Projekt in einer eher ländlichen Region Kenias gelten, dessen Erkenntnisse in Bangladesh als hilfreich angesehen werden.

Das hier vorgestellte Konzept neuartiger Bildungskerne stammt von dem deutsch-indischen Entwicklungsforscher und Kulturtheoretiker Narahari Rao. Es wurde ursprünglich für die nachhaltige Entfaltung traditioneller, lokaler Gemeinschaften in ländlichen Regionen von Entwicklungsländern erarbeitet. Wir glauben aber, dass es sinnvoll ist, ein Pilotprojekt auch für den reichen Norden aufzubauen, im Verbund mit einer lokalen Gemeinschaft für Menschen, die Modelle für ein nachhaltiges Leben in der Industriegesellschaft entwickeln. Denn in dieser Hinsicht sind wir immer noch eins: unterentwickelt.

Der Aufbau eines solches Bildungsprojekt in einer ganz normalen alltäglichen Umgebung, diese Volkshochschule neuen Typs, die den Boden für eine wirklich innovative Umgestaltung unseres Lebensstils bereitet, läuft bei uns unter dem Arbeitstitel: „Bildungskerne für eine andere Welt“.