Sex

Aphrodisische Kunst

Für die meisten von uns und unseren Freunden ist die künstlerische Gestaltung von Sex ein Anliegen. Das ist nicht metaphorisch gemeint: Sex ist ein Lebensbereich, der als Praxis zu einer Kunstfertigkeit oder sogar zu einer Kunst verfeinert werden kann. In unseren sozialen Plastiken spielt Sex deshalb gelegentlich eine Rolle. Wir wollen zudem ein Modell für einen Ort entwickeln, der jenseits der Event-Industrie, dem Sexbusiness und dem Psycho-Esomarkt erotische Begegnung, rituelle Sinnlichkeit und sinnliche Fertigkeiten vermittelt.

Radieschen LoverboyNiemand ist, was die Erotik betrifft, ein Naturtalent – mann, frau und mensch lernt Sex. Und durch Sex lernen wir, wie wir mit anderen umgehen. Sexuelle und sinnliche Erfüllung ist ein Aspekt menschlichen Lebens, der uns Menschen nicht einfach so zustößt. Wie jede andere Kunst, die zu einem guten und gelungenen Leben beiträgt, ist sie voraussetzungsreich. Sie bedarf Selbstbejahung, Wahrnehmungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Öffnung und Mut. Sie bedarf zwischenmenschlicher Tugenden wie Rücksichtnahme, Behutsamkeit, Sorgfalt, Offenheit, Achtung vor dem anderen und Würde. Und sie bedarf neben einer guten Kenntnis der biologischen Aspekte menschlicher Sexualität auch Sensibilität und Kundigkeit im sinnlichen Kontakt mit sich und anderen.

Es gibt Milieus und Szenen, die in Ritualen und Lehren solche Qualitäten praktisch lehren. Vieles findet dort unter dem Vorzeichen einer workshophungrigen Therapie-, Selbsterfahrungs- und Esoterikkultur statt, die sich gedankenlos durchkommerzialisiert hat und diese Kommerzialisierung keineswegs in Frage stellt. Und mancher Unsinn wird auch verzapft. Aber die meisten Menschen aus unserem Freundeskreis haben in irgendeiner Form Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt und trotz allem, was dort schräg und unreflektiert ist, viel für ihr Leben gewonnen.

Uns bewegt die Frage, wie wir jenseits der Vermarktungsmechanismen sowohl Plätze der erotischen Begegnung schaffen können als auch eine Institution, die Werkzeuge für das Erlernen und Einüben der hier angesprochenen Qualitäten, Tugenden und Fertigkeiten zur Verfügung stellt. Wir stellen uns einen Ort vor, der mit dem modernen Verständnis des 21. Jahrhunderts die bestehenden Ansätze ritueller Sinnlichkeit erforscht und erweitert und zugleich ähnlich einer Schule sinnliche Fertigkeiten pflegt und vermittelt. Wir hoffen, dass er als Ausstrahlungsort zu wildwuchernder Entfaltung vieler weiterer Rituale und erotischer Künste beiträgt und so mithilft, das Fundament einer anderen sinnlichen Kultur zu legen, die den menschlichen Körper und den Menschen in seiner Gesamtheit ehrt.
Zwei Menschen
Wir sind also nicht an der Errichtung einer (pseudo-)wissenschaftlichen Institution („Erotische Akademie“ oder dergleichen) interessiert oder gar an einem Selbsterfahrungszentrum, das Sex als Allheilmittel für alle Gebrechen der Welt beschauen und verordnen will. Es geht uns auch nicht um ein esoterisch aufgeladenes Zentrum für sexuelle Dienstleistungen, einen „Konsumtempel der Lust“ oder ein „Paradies für schnellen und unkomplizierten Sex“, selbst wenn das in der heutigen durchpornographisierten Gesellschaft die ersten Assoziationen sind.

Wir verwenden dabei das Wort „aphrodisisch“ in Anlehnung an das antike griechische Verb „aphrodisiazein“: „die Handlung der Liebesgöttin Aphrodite vollziehen“. Die Griechen bezogen sich mit diesem Wort in erster Linie auf den körperlichen Akt der Liebe („Liebe machen“), und somit auf eine sichtbare Handlung, nicht auf einen „inneren“ Seelenzustand. Dagegen ist die heutige Verwendung der Worte „sexuell“ oder „erotisch“ eng mit dem „Begehren“ und der „Lust“ verbunden.(1) Wir sind nicht – entgegen den Vorlieben der heutigen psychologischen Kultur – an Therapie und (Selbst-)erforschung der inneren Befindlichkeit interessiert, sondern an erlebbarer Praxis und der realen Begegnung zwischen Menschen. Auch wenn wir glauben, dass es sich hier um wertvolle Formen des Wissens handelt, sehen wir unser Engagement eher den Künsten als den „Wahrheiten“ zugehörig.

Wenn wir mit unseren Aktionen gelegentlich das Heilige der Sexualität sichtbar machen, vergegenwärtigen wir uns, dass Sex mehr ist als Fortpflanzung, aber auch mehr als Fun, Bedürfnisbefriedigung oder Spannungsabbau. Hier liegt für uns einer der Bezugspunkte zum Ritual. Riten sind mehr als magischer Hokuspokus, sie sind Ausdruck eines Umgangswissens mit der Welt, in ihnen ist ein wertvoller kultureller und sozialer Schatz gespeichert: Eine Haltung, eine Handlungsweise, eine Lebenseinstellung, die eine Kultur anhand ihrer sozialen Erfahrung entwickelt hat. Durch die konkrete Ausführung eines Rituals wird diese Haltung vergegenwärtigt, eingeübt und trainiert. Die Konzentration, Sorgfalt, Aufmerksamkeit, die diese Ausführung begleitet, ist dabei selbst von eigener Eleganz und Schönheit: „Wenn man in der [griechisch römischen] Vasenmalerei eine schöne Frau bei einer schönen Tätigkeit darstellen wollte, zeigte man sie entweder bei der Toilette oder aber beim Spenden eines Trankopfers.“ (2)

(1) Und mit einer ganzen Kultur des Geständnisses und der Aufdeckung: „Teile uns deine geheimen Gedanken mit, sag uns dein Begehren und wir sagen dir, wer du in Wahrheit bist.“ Wir teilen die moderne Lust an psychologischer Auf-klärung und Aus-leuchtung nicht und wir sehen keinen Sinn darin, Sexualität als dunkle, ominöse Macht im Innern eines Menschen zu begreifen, die ihn gefährdet, ihn steuert und ihn formt. Deshalb suchen wir nach neuen Wörtern.
(2) Paul Veyne: „Die griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und Moral.“; Stuttgart 2008; S. 101