Warum soziale Intelligenz nicht reicht

Covid19, Klimawandel und andere Herausforderungen

von Julio

(Kurzversion, 01. Juli 2020)

Im Sommer 1995 wurde Chicago von einer tödlichen Hitzewelle heimgesucht. In 5 Tagen starben über 700 Menschen – weit überwiegend Personen im Rentneralter. Es waren vor allem arme Menschen, die sich das Geld für eine Klimaanlage nicht leisten konnten, und entsprechend der ungerechten sozialen Situation in den USA gab es unter den To­ten überdurchschnittlich viele Afro­ameri­kaner. Doch trotz ähnlicher sozialer Lage starben bei einer anderen benach­teiligten Bevölkerungsgruppe, den Hispanics, deutlich weniger Menschen. Ob jemand überlebte, lag nämlich noch an einem weiteren Faktor: Wie dicht gewoben war das soziale, zwischenmenschliche Netz einer Person? Arme Wohnviertel, in denen die Menschen isoliert lebten und sich in den Wohnungen verbarrikadierten, verzeichneten die meisten Hitzetoten. Vergleichbare Viertel, in denen es dagegen ein reges Nachbarschafts- und Straßenleben, immer wieder neue Bekanntschaften und Freundschaften und einen sozialen Austausch gab, wie man ihn mit der Alltagskultur der Hispanics verbindet, hatten wenig Tote. Entsprechend starben anteilsmässig auch mehr alte Männer als alte Frauen, denn letztere sind oft sozial besser eingebunden und bemühen sich mehr um soziale Kontakte. Wechselseitiges Vertrauen, Gegenseitigkeit und soziale Orientierung retten Leben. (1)

In der Sozialwissenschaft haben sich als Indikatoren, wie stark prosoziale Einstellungen (etwa wechselseitiges Vertrauen oder Altruismus) an einem Ort vorhanden sind, die örtliche Bereitschaft zu Blutspenden und sogar die lokale Beteiligung an staatlichen Wahlen, etabliert. (2) Denn Wählen ist dann für die Einzelne sinnvoll, wenn der gemeinsame Nutzen für Alle als wichtiger erachtet wird, als das geringe Gewicht der einzelnen Stimme und die individuelle Unbequemlichkeit. Jüngste Untersuchungen in Europa und den USA zeigen nun, dass in Regionen mit hoher Wahlbeteiligung (oder mit hoher Bereitschaft zu Blutspenden) die Menschen sehr früh und überdurchschnittlich stark begonnen haben, ihre eigenen Kontakte und ihr Reiseverhalten einzuschränken, damit andere Personen nicht an Covid19 erkranken. (3) Auch beim Kampf gegen Covid19 spielen prosoziale Einstellungen also eine Rolle. (In der Sozialwissenschaft hat der Soziologe Robert D. Putnam dafür den Begriff “Soziales Kapital” eingeführt.)

Freundlichkeit oder gute Kommunikationsfähigkeit reichen nicht aus

Covid19 ist ein Vorbote davon, wie der Klimawandel und andere Herausforderungen wie beispielsweise Globalisierung, Res­sour­cen­verbrauch, Digitalisierung oder ein neues Verständnis der Geschlechter einen enor­men Veränderungsdruck auf unsere Ge­sell­schaft ausüben. Wir werden dichte zwischen­menschliche Strukturen benötigen, die von wechselseitigem Vertrauen, solida­rischem Handeln und Aufmerksamkeit für­einander geprägt sind, um zukünftig ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Ein solches Milieu langfristig zu kultivieren ist eines der Ziele der Werkstatt Dritter Ort.
Doch die Lage ist kompliziert: Freundlichkeit oder gute Kommunikationsfähigkeit reichen dafür nicht aus. Denn es gibt eine Gruppe von Menschen, die trotz ihres Interesses an sozialer Nähe und vertrauensvollen Beziehungen nicht hilfreich im Kampf gegen Covid19 ist: Jener kleine, sich immer mehr radikalisierende Teil der Bevölkerung, der an demokratiefeindliche Verschwörungstheorien glaubt und nicht selten antisemitische oder rechtsradikale Ansichten vertritt. Mal wird die Existenz der Seuche geleugnet, mal wird generell bestritten, dass es Viren überhaupt gibt. Staatliches Handeln wird unter Generalverdacht gestellt: Es gehe darum, die deutsche Bevölkerung auszutauschen oder finanziell zu zerstören, die Pharmakonzerne mit Extra­profiten zu versorgen und eine ewige Diktatur von Bundeskanzlerin Merkel vorzubereiten. Aus der bisweilen sinnvollen, bisweilen aber auch irreführenden Frage: „Wem nützt es?“ wird ein stereotypes Deutungsmuster, das hinter komplexen, verwickelten und oft sprunghaften Ereignissen in Politik und Gesellschaft einfache Ursachen sieht: Die Konzerne, die Illuminati, die Juden oder George Soros stecken hinter allem.(4)

Die alternative Gegenkultur und ihre Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien

Meine Mitstreiterinnen von der Handlungs­gesell­schaft Der Dritte Ort und ich selbst kennen Ver­schwö­rungsdenken in der Selbsterfahrungs­szene und ökospirituellen Szene gut, denn eine ganze Rei­he von uns hat nicht nur einstige Freunde und Bekannte an das verschwörungstheoretische Milieu ver­loren, sondern bereits vor 20 Jahren Infor­ma­tions­angebote und Veranstaltungen organisiert, um über rechtsradikal-esoterisches Gedankengut zu in­formieren. Wir sind froh, dass endlich in der Presse thematisiert wird, dass nicht nur Neonazis und rechts­radikale Libertäre, sondern ebenso Teile der (öko-)spirituellen Szene und ein größerer Teil des Selbsterfahrungsmilieus empfänglich für Verschwörungstheorien sind.

Ignorante Wissenschaft führte zur Ignoranz gegenüber Wissenschaft

Diese Empfänglichkeit liegt zum einen an einer gewissen Wissenschafts- und Bildungsfeindlichkeit, denn in diesen Kreisen wird gerne das Gefühl, die Anschauung und die unmittelbare körperliche Erfahrung betont. Geistige Tätigkeiten oder der Verstand werden oft als „verkopft“ oder „Mind fuck!“ abgewertet. Entsprechend beobachten wir in diesen Milieus seit 20 Jahren einen Rückgang an kognitiven Fähigkeiten und ein Unvermögen komplexere, abstrahierende Zusammenhänge zu studieren und zu verstehen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass sich in der alternativen Gegenkultur sogenannte alternative Wissenschaften und Theorien herausgebildet haben. Aufgrund von Vorurteilen, aber auch aufgrund von beruflichen Anpassungszwängen hat die etablierte Wissenschaft sich lange Zeit nur abschätzig und ignorant mit Phänomenen beschäftigt, die in der Alternativkultur thematisiert wurden und die für immer mehr Menschen eine Rolle spielen. Beispiele dafür sind etwa veränderte kosmologische Ansichten, ökologische Techniken, neue Sozial- und Wohnformen, naturreligiöse Praktiken, Alternativen zur Schulmedizin, neue sexuelle Erlebnisformen, spirituelle Erfahrungen. Doch aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Ausbildung in dieser Szene, mangelnder Ressourcen und mangelnder Qualitätskontrollen haben die Alternativwissenschaften nur selten den professionellen Stand und die theoretische Tiefe der etablierten Wissenschaften erreicht. Oft wird wissenschaftlicher Humbug vertreten, der jedoch die ethischen und weltanschaulichen Grundintuitionen der Menschen trifft, schneller nachvollziehbar und eingängiger ist, als die voraussetzungsreichen, oft vertrackt wirkenden und komplexen Erklärungen der etablierten Wissenschaften.

Wissenschaft zu betreiben ist genauso kompliziert wie Kinder aufzuziehen oder Actionfilme zu drehen. Das Produkt wissenschaftlicher Arbeit sind Erklärungen. Das Verfahren ist dabei ähnlich wie beim Modellbau, z.B. beim Nachbau alter Segelschiffe in Spielzeuggröße: Wissenschaftliche Erklärungen sind wie kleine zusammengeklebte Modellbauelemente, die mit Geschick in ein bereits teilweise aufgebautes Modell eingepasst werden müssen. Allerdings sind die in der Wissenschaft herrschenden Modelle riesengroß; seit Jahrhunderten wird bereits daran gebaut. Von außen und im Innern lassen sich zwar sinnvolle Teilformen erkennen, aber niemand weiß, wie die endgültige Form aussieht: An einer Stelle sieht das immer unfertige Ganze aus wie ein Auto, an anderer Stelle mehr wir ein Schiff.

Wissenschaftliche Autorität ist etwas anderes als Sympathie

In diesem Modell klettern fortlaufend Tausende von Expertinnen auf und ab, einige arbeiten an denselben Ecken und begutachten und kritisieren die Beiträge der anderen fortwährend. Immer stimmt irgendwo etwas nur halb, ist schief und ruft nach Ver­besserung. Oft ist unklar, wie diese aussehen kann, also bleibt es erst einmal wie es ist. Andererseits findet sich stets jemand, der irgendwo ein bereits eingefügtes Modell­element wieder auseinander baut, es anders zusammenklebt, das Ergebnis um 180 Grad dreht und neu einfügt. Gelegentlich passiert dies auch mit größeren Teilstücken. Vor dem Modell stehen Journalistinnen herum, die manchmal redlich bemüht und manchmal sensations­hungrig die Arbeit der Wissenschaftlerinnen fotografieren und darüber berichten.

Um als Laie die von Wissenschaftlerinnen erzeugten Erkenntnisse selbst einschätzen zu kön­nen, ist eine gewisse Vertrautheit mit dem alten riesengroßen Modell nötig, sowie eine ge­wisse Bekanntschaft mit den Werkzeugen, die von Wissenschaftlerinnen verwendet werden. Eben­so hilft eine gewisse Kenntnis, wie sich wissenschaftliche Autorität heraus­bildet. Nicht selten werden von Zeitungen oder Youtube-Videos Menschen als wissen­schaftliche Autori­tä­ten dargestellt, die unter den Kolleginnen gar nicht als DIE große Auto­rität in dem betref­fen­den Gebiet oder für diese Frage gelten. Stattdessen mag es die arro­gante, unsym­pa­thi­sche Frau ganz hinten links sein, die Journalisten hasst und deshalb nie vor die Kameras tritt.

Warum wir Bildung brauchen, um mit dem Klimawandel und anderen Herausforderungen klarzukommen

Vor allem ist es hilfreich, sich eine gewisse Vertrautheit mit den Unterscheidungen zu erarbeiten, die Wis­sen­schaftlerinnen durch abstrakte Begriffe ausdrücken und dann in komplexen, abstrahierenden Argumen­tationen verwenden. Das gelingt am besten im Dialog mit den Wissen­schaft­lerinnen selber. Dieser Dialog mag von Angesicht zu Angesicht, also per Gespräch erfolgen. Er kann aber ebenso gut über aner­kannte wissenschaftliche Bücher stattfinden, als erster Schritt auch über Einführungs­bücher. In dem Moment, in dem wir als Laien die Erklärungen der Wissenschaftlerinnen hören und verarbeiten, bauen wir ihr Modell, ihre Welt noch einmal nach. Denn neue Begriffe und Unterscheidungen muss jede Leserin/Zuhörerin für sich selbst gedanklich nachvollziehen, nur so kann sie diese verstehen. Das Modell oder das Teilmodell ist also nicht nur bei den Wissenschaftlerinnen vorhanden, sondern entsteht im Kopf jeder einzelnen Leserin/Zuhörerin neu. Bei diesem Prozess spielen Kritik, logische Schlüsse, angestrengtes Nachdenken, aber auch Phantasie und Offenheit eine wichtige Rolle. Dass die Welt aufgrund der neugelernten Begriffe und Unterscheidungen an dieser kleinen Stelle nun anders betrachtet wird, ist bereits eine Veränderung in dem betreffenden Menschen. Dass für den Prozess des Verstehens zudem geistige Selbstständigkeit, Urteils­vermögen und eigene Anstrengung notwendig ist, sorgt ebenfalls für Veränderung. Die Gesamtheit dieses Prozesses ist das, was mit dem Wort „Bildung“ gemeint ist: Man bildet sich um.(5)

Weiter oben wurde beschrieben, wie wichtig Lebensmilieus sind, in denen wechselseitiges Vertrauen, soziale Nähe und Verantwortung füreinander kultiviert werden. Soziale Intelligenz im Umgang ist sehr wichtig, reicht aber alleine nicht. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, in der Ökoweine und Brillen genauso wie Stahlnägel und Verkehrskonzepte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Für den Klimawandel und andere Herausforderungen in den nächsten 20 bis 50 Jahren brauchen wir eine ganze Explosion an innovativen, kreativen Lösungen, um ein gutes Leben für uns selbst, unsere Kinder und für die anderen Lebewesen auf diesem Planeten zu ermöglichen. (6) Manches davon wird im Labor erfunden werden, vieles aber auch am wissenschaftlichen Schreibtisch und vieles im Alltagsleben durch Menschen, die gemeinsam Lösungen entwickeln und anpassen. Wir brauchen Lebensmilieus, in denen kognitive Fähigkeiten, Kreativität, Erfindungsgeist, Wissen, technisches wie künstlerisches Verständnis, abstrahierendes Denken und das sich Eindenken in unterschiedliche Weltmodelle auf unterschiedlichste Lebensaspekte angewendet werden. Milieus, in denen Bildung kultiviert und wertgeschätzt wird. Das ist ein wesentlicher Teil der Mission der Werkstatt Dritter Ort.

________________________________________________________
Fußnoten

(1) Siehe für eine berühmte Studie dazu: Eric M. Klinenberg (2003): Heat Wave: A Social Autopsy of Disaster in Chicago. University of Chicago

(2) Siehe z.B. Luigi Guiso, Paola Sapienza, Luigi Zingales (2004): The Role of Social Capital in Financial Development; in: American Economic Review; Vol. 94 (3); S. 526–556. Toby Bolsen, Paul J. Ferraro, Juan Jose Miranda (2014): Are Voters More Likely to Contribute to Other Public Goods? Evidence from a Large‐Scale Randomized Policy Experiment; in: American Journal of Political Science; Vol. 58 (1); S. 17–30

(3) Das gilt selbst dann wenn man den Effekt auf regionale Alterszusammensetzung, Gesundheitsversorgung, Wohlstand, Beschäftigtigungsart und Bildungsgrad kontrolliert. Siehe dafür: Alina Kristin Bartscher, Sebastian Seitz, Sebastian Siegloch, Michaela Slotwinski, Nils Wehrhöfer (2020): Social Capital and the Spread of COVID-19: Insights from European Countries; IZA Discussion Paper o. 13310; Bonn: IZA Institute of Labor Economics; Desweiteren siehe Ruben Durante, Luigi Guiso, Giorgio Gulino (2020): Civic capital and social distancing: Evidence from Italians’ response to COVID-19; VOX CEPR Policy Portal. Francesca Borgonovi and Elodie Andrieu (2020): The role of social capital in promoting social distancing during the COVID-19 pandemic in the US; VOX CEPR Policy Portal. Ältere Studien zeigen in Bezug auf Grippe den gleichen Zusammenhang bei beim freiwilligen Impfen, Masken und Hygiene. Siehe dazu: Ying-Chih Chuang et al. (2015): Social capital and health-protective behavior intentions in an influenza pandemic; in: PloS one; Vol. 10 (4). Björn Rönnerstrand (2013): Social capital and immunisation against the 2009 A(H1N1) pandemic in Sweden; in: Scandinavian Journal of Public Health; Vol. 41 (8); S. 853–859. In diesem Kontext auch interessant: Marcus Painter, Tian Qiu (2020): Political beliefs affect compliance with COVID-19 social distancing orders.

(4) Karl Hepfer (2015: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft; transcript verlag; 189 S.87

(5) Narahari Rao (1999): Der Begriff der Universität; in: Kai Buchholz, Shahid Rahman, Ingrid Weber (Hrsg.): Wege zur Vernunft. Philosophieren zwischen Tätigkeit und Reflexion; Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag; S. 39-50. Narahari Rao (2001): Der Bildungsbegriff in Humboldts Konzept der Universität und Wege zu seiner Erneuerung; in: Karl-Otto Apel und Holger Bruckhardt (Hrsg): Prinzip Verantwortung – Grundlage für Ethik und Pädagogik; Würzburg: Köbigshausen und Neumann; S. 227-236;

(6) Sebastian Gallehr, Julio Lambing, Gudrun Merkle, Hans Schuhmacher (2009): A new industrial revolution: eco-innovation and the Humboldtean approach; A new industrial revolution: eco-innovation and the Humboldtean approach: in: CEDEFOP: Future skill needs in the green economy; Luxembourg: Publications Office of the European Union; S. 82-88