Geheimnis und das Fremde – zum Umgang mit ihnen

von Julio

(Kurzversion, 04. Mai 2019)

Nicht wenige Menschen haben ein Problem mit dem Geheimnis. Wenn man ihnen z.B. mitteilt, dass man etwas weiß, was man ihnen aber nicht mitteilen wird, reagiert die weit überwiegende Anzahl der Menschen gereizt: Sie drängen, sie betteln bisweilen sogar um zu erfahren, was ihnen vorenthalten wird. Selbst wenn sie gar nicht sicher sind, ob sie das, was sie nicht wissen, wirklich interessiert. Das Geheimnis soll nicht bleiben, es muss über kurz oder lang gelüftet werden, das ist das Gebot unseres Zeitalters.

Angeblich ruft jedes Geheimnis nach Aufklärung. Dieser unkontrollierte Drang (eigentlich sogar Zwang) nach Erhellung eines Geheimnisses, – nach Ent-Deckung – hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem herausgehobenen Genuss, den ausgesprochen patriarchal erzogene Männer bisweilen darin verspüren, sogenannte Jungfrauen zu deflorieren. So wie die angeblich naturgegebene Dominanz der Männer ist auch das Streben (oder treffender: die Jagd) nach Geheimnislüftung von mächtigen Erzählungen legitimiert. Das Geheimnis steht für dunkle Unvernunft, Aberglaube und Tradition – so wird gesagt. Die Aufdeckung des Geheimnisses sei dagegen der Weg der lichten Vernunft, der Auf-Klärung und der Moderne. So wie die Pflanze sich nach Licht sehne, strebe die Menschheit in ihrer Gesamtheit stetig der Entdeckung und der Auf-Klärung zu. Zivilisation ist Sonne, ist Gott. Dunkel ist das Mittelalter. Dunkel ist der Aberglaube. Dunkel sind die Begierden. Dunkelheit ist böse.

Eine solche Erzählung, eine solche Bilderwelt ist ein Mythos. Das heißt sie ist ähnlich einflussreich und allgegenwärtig wie es manche der antiken Geschichten über Helden und Götter vor 2500 Jahren waren. Ironischerweise galten in der modernen Vernunftrhetorik der westlichen Zivilisation Mythen bzw. eine mythische Weltauffassung selbst als dasjenige, das durch die Aufklärung zu überwinden sei. Angeblich – so heißt es – leben wir in einem nachmythischen Zeitalter.

Auch der oder die Fremde gilt als dunkel. Unser Leitmotiv im Umgang mit den Fremden und der Fremde, fern und nah, ist dessen Auslöschung. Wir streben danach, das Fremde vertraut zu machen. Entweder kolonisieren wir es. Dann marschieren wir in fremde Länder ein, unterwerfen die dort lebenden Fremden und streben danach, sie langfristig nach unserem Ebenbilde zu zivilisieren, also aus dem Dunkel des Dschungels in das Licht der Straßenlaternen und Schaufensterlampen zu führen.

Der Unterwerfung des Fremden geht meistens ein Erforschen voraus: Das Geheimnisvolle des Fremden wird ent-deckt, wird ausgeforscht, bis wir meinen es zu verstehen, also nach den uns gewohnten Wahrnehmungschemata einordnen zu können. Dann bezeichnen wir das Fremde als „naturfixiert rückständig“ oder als „unverdorben tiefsinnig“, als „körperlich und gefühlsnah“ oder als „ungeschlacht“, als „abergläubisch“ oder „als spirituell-mystisch“. Solche Kontrastbegriffe sind eigentliche sprachliche Werkzeuge, um in unserer eigenen Gesellschaft wichtige Einteilungen schematisch zu verdeutlichen. Jetzt werden sie gleichsam amputiert und einseitig auf fremde Kulturen projeziert.

Eine anderer Methode das Fremde auszulöschen, besteht in dessen Erhebung: Dann verherrlichen und verehren wir es, weil es angeblich etwas an sich hat, was wir schon lange verloren haben: Naturbezug, Intuition, Männlichkeit, Sittenstrenge, was auch immer. Auch dann lassen wir das Fremde nicht Fremdes sein, sondern gemeinden es in unsere bekannte Weltversion ein. Ganz egal, ob Menschen mit spirituellen, christlichen, sozialistischen, bürgerlichen oder sogenanntem wissenschaftlichem Weltbild – sie alle sind unermüdlich darin, das Fremde prompt in die Schubladen ihrer gewohnten Weltsicht einzusortieren.

Wie kann man das Fremde als Fremdes ernstnehmen? Indem man die Fremdheitserfahrung wirklich zulässt. Ein guter körperlicher Hinweis sind Kopfschmerzen – also wenn etwas uns so fremd erscheint, dass wir beim ersten Verstehen wollen ganz real Kopfschmerzen bekommen, vor Anstrengung und Verwirrung. Sie sind ein Zeichen dafür, dass wir etwas nicht einordnen können, dass dieses Etwas in unserer Welt keinen Sinn ergibt: Das Fremde als Fremdes kommt bei uns.

Kopfschmerzen und Verwirrung sind kein Selbstzweck. Was ist der Sinn des Fremden? Es hilft uns, die Weisheit zu entdecken: Wenn wir bereit sind, das Staunen und die Stille zuzulassen, anstatt direkt mit den uns vertrauten Interpretationen, Deutungen und Erklärungen daher zu kommen, dann können wir verstehen, dass sich unterschiedliche Welten bzw. Weltversionen begegnen, in denen Menschen jeweils aufgrund verschiedener Lebenserfahrungen eigene Wege des guten Lebens gefunden haben.

Auch von Hier lässt sich ein Ent-Decken starten: Das Verstehen wollen muss aber bei der Begegnung in den Modus des Gesprächs wechseln. Es geht um das wechselseitige Nachvollziehen der fremden Weltversion. Das geht nur, in dem man gemeinsam im Gespräch eine neue dritte Weltversion aufbaut, in der Schritt für Schritt die Erfahrungen der einen Seite in gemeinsame Begriffe für beide Seiten gefasst werden, so dass diese Erfahrungen (und die Lehren, die man daraus gezogen hat) für beide Gesprächspartnerinnen nachvollziehbar werden.

Allerdings ist dieser Aufbau einer gemeinsamen, neuen Weltsicht ist nur das eine, was die Fremdheit uns lehrt. Das andere ist die grundsätzliche Erkenntnis, dass Menschen immer ein Geheimnis bleiben, vor sich selbst und für andere – ganz egal, welche Theorien und Wahrnehmungsmuster in einer Kultur kursieren oder angewendet werden. Dass Menschen niemals wirklich berechenbar sind, dass es keine psychologische Lehren, keine Sozialtheorie, keine Pädagogik, keine Wirtschaftslehre, keine Biologie gibt, die wirklich menschliches Verhalten zuverlässig voraussagen kann.

Es gibt einen dunklen Kern in jedem Menschen, aus dem sein Handeln, seine Spontaneität entspringt. Und diesen Kern müssen wir ehren, wenn wir den Menschen respektieren wollen.