Entzauberung der Welt und das Wesen der Magie

von Julio

(Kurzversion, 27. August 2020)

Die These von der Entzauberung der Welt

Vor 100 Jahren tauchte das Wort „Entzauberung“ in den Diskussionen darüber auf, was die moderne Welt ausmache. Es war Max Weber, einer der Begründer der Sozialwissenschaft, der diagnostizierte, dass das Abendland seit 2500 Jahren einen Prozess der Rationalisierung und der Intellektualisierung erlebe und sich damit von anderen Weltregionen unterscheide: Mehr und mehr würden die Menschen ihr Handeln nicht an falschen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen aus der Magie orientieren, sondern an der wissenschaftlichen Erkenntnis realer Zusammenhänge, die letztlich alles berechenbar mache. Zweitens hätten die Menschen im Abendland mehr und mehr akzeptiert, dass die Vorgänge in der Welt nur noch „sind“ und „geschehen“, aber nichts von sich aus „bedeuten“. Drittens habe im Westen die Kritik an magischen Formen der Religion letztendlich zu einer unaufhaltsamen Selbstauflösung und Bedeutungslosigkeit der Religion geführt. Dieser Prozess hätte mit den jüdischen Propheten begonnen, die das israelische Volk für seine magischen Vorstellungen kritisiert hätten. Er wäre dann durch das wissenschaftliche Denken in der Antike fortgesetzt worden und hätte im Protestantismus des 16. Jahrhunderts, der die Magie der katholischen Kirche zurückwies, seinen entscheidenden Gipfel erreicht.

In der Wissenschaft ist schon lange angekommen, dass Max Webers Diagnose in unterschiedlichen Aspekten nicht stimmt. Um einige Punkte zu nennen: Trotz Fortschritt in Raumfahrt und Medizin, in Waffentechnik und Gehirnforschung ist die Religion im Abendland nicht verschwunden. Sie steht anscheinend nicht im Widerspruch zu diesen Fortschritten. Und es ist gar nicht klar, ob sie je verschwinden wird. Außerdem waren weder die griechische Antike noch die jüdischen Propheten und erst recht nicht der Protestantimus ein Frontalangriff auf die Magie. Wer in der Antike Mathematik betrieb, sah sich dadurch nicht aufgefordert, die Heilungsrituale im Tempel von Epidauros für Blödsinn zu halten. Luther glaubte fest an Hexen, Protestanten zündeten Tausende von Scheiterhaufen an. Bis heute spielt der Teufel für viele evangelische Strömungen eine ganz besondere Rolle.

Die ganze Rhetorik rund um die herausgehobene westliche Vernunft stimmt so nicht: Z.B kann sogenanntes „östliches Denken ebenso rational, liberal, realistisch oder zynisch sein wie das westliche und das wiederum ebenso mystisch, autoritär, relativistisch oder obskur wie das östliche“ (Ian Morris). Wir wissen heute, wie viel die moderne Naturwissenschaft den Magiern der Renaissance und den esoterischen Neigungen von Naturforschern wie Bacon, Kopernikus, Galileo und Newton verdankt. Magie ist auch nicht schlichter Aberglaube von bedauernswerten Trotteln, die noch nicht kapieren, dass Regen und Sonne, Schwangerschaften und das Auftauchen von Büffelherden auf natürliche Phänomene zurückgehen, deren Regelhaftigkeit man durchschauen kann. Wenn auf einigen australischen Inseln die Geistkinder auf Orchideen leben, wissen die dortigen Aborigines dennoch, dass nicht nur diese Geistkinder, sondern auch ein funktionstüchtiger Penis wichtig für eine Schwangerschaft ist. Und nicht nur am afrikanischen Viktoria-See macht man Regenbeschwörungen natürlich in der Regenzeit.

Mit Magie erzeugt man Weltversionen

Magie hat nichts mit Aberglauben zu tun und nichts mit dem Blödsinn von vermeintlich schwarzer und weißer Magie. Magie ist eine Sammelbezeichnung von sehr unterschiedlichen Praktiken. Manche dieser magischen Praktiken dienen dazu, den Menschen bewusst zu machen, wie die Welt funktioniert, welche Rollen Menschen, Tiere, Pflanzen, Orte in dieser Welt spielen und welche Einstellungen notwendig sind, wenn wir gut leben wollen. Andere richten unseren Blick auf einzelne Aspekte der Wirklichkeit und thematisieren deren Auswirkungen auf das Alltagsleben. Und wieder andere sind Techniken, um unser Handeln oder unseren Zustand zu verändern, etwa wenn wir krank sind oder Herausforderungen erleben oder Ziele erreichen wollen. In all diesen Fällen erzeugen solche Praktiken kurzfristig eine Version der Welt, die sich von der Normalwelt unterscheidet. Sie erzeugen Weltversionen, die jeweils etwas *anderes* bedeuten. Weltversionen, in denen die Welt uns etwas mitteilt, das wir in den Geschäften und Routinen der Alltagswelt nicht hören können.

Wie erzeugt Magie solche Weltversionen? Sie reichern die Bedeutung dessen, was geschieht und was ist, mit zusätzlichen, weiteren Bedeutungen an. Zu den wichtigsten magischen Werkzeugen gehören Symbole, Bilder, Metaphern und Vergleiche. Durch sie werden alte, bekannte Geschichten wachgerufen und zugleich neue Geschichten angestoßen. Diese Bilder und Geschichten sorgen dafür, dass die vertrauten Elemente der Alltagswelt nun anders gewichtet werden. Sie arrangieren Abläufe und Geschehnisse neu und stellen andere Zusammenhänge heraus. All dies hilft denen, die an einer magischen Praktik beteiligt sind, die Welt für eine gewisse Zeit anders zu sehen und anders zu hören. Was aber gesehen und gehört wird, kann erinnert werden. Magie wirkt, weil Menschen erinnern.

Dieses geregelte Spiel mit Bedeutungen ist einer der Gründe für den Nutzen von Magie. Anders als Max Weber meinte, ist eine mentale Verfassung, bei der die Welt uns neutral anschweigt und von sich heraus erstmal gar nichts bedeutet, nicht Ausdruck von geistiger Reife. Wir würden ihn heute eher als einen Zustand der Depression und Leere bezeichnen.

Die Dichtkunst von Donald Trump

Eine Entzauberung der Welt, wie Max Weber sie unterstellt, hat nicht stattgefunden. Entzaubert wurden nur wir. Magie hat nie aufgehört, denn es gibt weiterhin Poesie. Das ist nicht so trivial gemeint wie es klingt und meint etwas anderes als die abgenudelte Formulierung: „Mit Poesie verzaubern.“ Poesie verzaubert nicht die Welt. Poesie erschafft Welt. Das altgriechische Wort „poesis“ hat wie das mittelhochdeutsche Wort „tichten“ die Bedeutung: erschaffen. Die Dichtkunst ist die Kunst des Erschaffens.

Dass Dichtkunst eine Disziplin der Magie ist, war den Herrschern aller Zeiten bewusst. Die keltischen Könige Irlands fürchteten die Barden, deren Satiren und Schmählieder gefährliche Flüche waren. „Keine Kuhmilch, von der ein Kalb groß wird. Keine Bleibe für einen Mann im Dunkel der Nacht. Keine Bezahlung für die Schar der Geschichtenerzähler!“ lautet ein Fluch, mit dem ein König der Vorzeit in den Ruin getrieben wurde. Flüche erzählen Mini-Geschichten. Ein gefährlicher ungarischer Fluch lautet: „Dreizehn Apotheken sollen nicht ausreichen, um dich zu beliefern!“ und ein bekannter jiddischer: „Du sollst viele Verwandte haben und keine Freunde.“ Der Amerikanische Präsident Donald Trump z.B. ist ein gefährlicher Flucher, indem er Spitznamen benutzt, die Geschichten erzählen: Sleepy Joe (für Joe Biden), Heartless Hilary (Hilary Clinton), China Virus und Kung Flu (für den neuen Coronavirus).

Gewöhnliche magische Praktiken folgen immer einem bestimmten Zweck. Die Bedeutungen, die sie den Dingen geben, sind zwar oft doppeldeutig und hintersinnig. Aber um ihre Macht zu entfalten, muss die Anzahl der möglichen Interpretationen eingegrenzt sein und von einer Gruppe an Menschen geteilt werden. Es sind vor allem die Handlungen, die diese Interpretationen eingrenzen und festigen. Flüche sind ein gutes Beispiel für die Grenzen der Magie. Verfluchungen wirken nur bei einer geteilten Weltsicht, bei geteilten Erzählungen über die Welt. Der Flucher, das soziale Umfeld und möglichst auch die verfluchte Person müssen die gleiche Weltversion teilen. In einer Welt, in der Frauen nicht von vorneherein als kalt und ehrgeizig wahrgenommen werden, wenn sie berechnend und abwägend Politik betreiben, wirken die Formeln „Herzlose Hilary“ und „Falsche Kamala“ nicht.

Gedichte als Zauberei

Poesie ist eine spezialisierte Form von Magie. Auch sie ist eine Form des Handelns und bedarf des Handelns. Auch sie verwendet Symbole, Bilder, Metaphern, die Geschichten hervorbringen. Poesie arrangiert und kombiniert so –wie jedes Kunstwerk –eine spezifische Weltversion. Doch sie tut mehr. Poesie erzeugt einen zweckfreien Überschuss an Interpretationen, einen Luxus an Bedeutungen –selbst dann wenn ein Kunstwerk eine bestimmte Absicht verfolgt. Die Bedeutungen, mit denen die Poesie die vertraute Alltagswelt anreichert und die dadurch zu einer neuen Welt werden, sind immer so vielfältig, dass sie die Welt nicht nur auf eine begrenzte Anzahl an Arten zum Sprechen bringt. Im Gegensatz zur zweckbestimmten Magie sind es vielmehr von vornherein viele Schichten an Bedeutungen, die übereinanderliegen, viele Weltversionen.

Poesie verzaubert. Aber nicht so, wie die Werbeslogans von Disneyland und Cirque de Soleil uns glauben machen wollen. Wenn Top-Manager Schamanen-Seminare zur Inspiration besuchen oder C&A in zauberhafter Umgebung seine Klamotten anpreist, wird aus Poesie eine Ressource. Aus Magie wird Therapie, aus Poesie Kitsch und durch beides die Welt fad und schal. Denn Poesie ist nicht einfach „schön“ und angenehm. Das, was wir durch sie hören oder sehen, kann niederschmetternd sein. Ein berühmtes Gedicht über die Judenverfolgung in der Nazi-Zeit beginnt mit den Worten: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends -wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts -wir trinken und trinken -wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“. Auch dieses Gedicht von Paul Celan zeichnet mit wenigen Pinselstrichen eine einprägsame Weltversion, in diesem Fall eine furchtbare.

Und zugleich zeigt das Gedicht die Macht der Menschen, Welten zu erschaffen. Menschen können Welten erschaffen, in denen alles verblasst. Sie können Welten erschaffen, die ungerecht sind. Sie können Welten erschaffen, in denen alles korrekt ist, alle sich richtig verhalten, für alles eine Lösung existiert. Welten, in der niemand lügen darf, in denen alle originell, bunt und individuell sein sollen, in denen jeder Mensch seines Glückes Schmied ist. Solche Welt-Erschaffung ist in jedem Fall immer auch ein poetischer und ein magischer Vorgang. Keine Welt wird ohne Magie erschaffen, weder die Welt von Donald Trump, noch die Welt der Nazis, weder die Welt der Banker noch die der Hippies. Aber Poesie kann die Erinnerung wachhalten, dass es mehr als eine, zwei oder drei Welten gibt. Dass jedem menschlichen Handeln etwas Rätselhaftes anhaftet, das durch keine Deutung vollständig erklärt wird, und dass Menschen ein Recht auf Rätselhaftigkeit haben. Dass Entzauberung ein Versuch ist, Tiefe, Ambivalenz und Widersprüche aus unseren Weltversionen zu löschen.