Bibliotheksgespenster und ihr Recht auf Beachtung

von Julio

(Kurzversion, 14. April 2021)

Wie den meisten Besucher und Besucherinnen bekannt, steht die Werkstatt Dritter Ort als Treffpunkt auch Göttinnen offen. Diese Gastfreundlichkeit ist ernstgemeint und gilt nicht nur gegenüber Göttinnen, sondern ebenso gegenüber Göttern, Geistern, Gespenstern, Dämonen, Ahnen, Feen, kleinem Volk usw. – zumindest insofern sie den anderen Betreibern und Betreiberinnen, Gästen und Gästinnen wohlgesonnen sind und sich freundlich verhalten. Das bedeutet nicht, dass alle Menschen der Handlungsgesellschaft des Dritten Ortes dieses Unterfangen unterstützen. Doch es wird von allen toleriert.

In christlichen Kulturen werden solche Wesen oft als „übersinnlich“ oder „übernatürlich“ bezeichnet, aber das ist irreführend, denn die Gesetze der Physik gelten auch für sie. (Letztere können jedoch bisweilen für sie irrelevant sein, so wie Newtons „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“ irrelevant für Zahlen ist.) Sie sind ebenso keine „spirituellen“ Wesen, auf jeden Fall nicht mehr, als Viren oder die Bundesrepublik Deutschland „geistige Wesen“ sind (lateinisch „spiritus“: Geist). Zudem unterscheiden sie sich selbst untereinander in ihrer fundamentalen Daseinsweise: Ein olympischer Gott gleicht einer germanischen Dise ungefähr so, wie ein belgischer Schaffner dem Köln-Mülheimer Jobcenter gleicht. Sie alle sind aber Personen und teilen das traurige Schicksal, dass viele Europäerinnen ihre Wirklichkeit abstreiten. Im Folgenden werden sie deshalb als aufgrund ihres Wirklichkeitscharakters abgelehnte Personen bezeichnet, abgekürzt WAPs.

Damit ein WAP in der Werkstatt vorbeischaut, braucht es eine angemessene höfliche Haltung. Das lässt sich anhand eines haitianischen Sprichworts verdeutlichen, das der Mythologe Joseph Campbell einmal zitierte: „Wenn die Ethnologen kommen, verlassen die Götter die Insel.“ Den Satz versteht man sofort, wenn man sich vorstellt, man wäre selbst die Betroffene: Da taucht jemand mit Kamera am Wohnort auf, schmückt sich mit seltsamen Titeln und stellt Nachforschungen über einen an. Das gesamte persönliche Umfeld wird befragt, eifrig werden Notizen gemacht. Aber läuft besagte „Wissenschaftlerin“ einem persönlich über den Weg, merkt man ganz schnell, dass man schlicht Luft für sie ist. Wenn überhaupt ist man so etwas wie ein Ding. Das macht man einmal mit, zweimal vielleicht und dann? Entweder wünscht man den Eindringlingen die Cholera an den Hals – oder man verzieht sich.

Die Offenheit gegenüber WAPs entspringt keinem ideologischen Programm. Diejenigen in der Werkstatt, die sich um sie kümmern, mögen sie einfach. Die Begegnung ist anregend und oft bereichernd. Ihre Anwesenheit belebt den Ort und tut ihm gut. Nicht wenige sind hilfsbereit und großzügig. Aus den Geschichten und Hintergründen, die sich mit ihnen verbinden, lässt sich immer etwas lernen.

Wie Götter und Elfen geboren werden

Es ist nicht gut, dass durch menschliche Ignoranz der Aktionsraum für viele dieser Wesen immer mehr beschnitten wird. Neil Gaiman schildert in seinem Roman „American Gods“, wie die alten Götter, Dämonen und Kobolde in den USA ein kärgliches Dasein als Betrüger, Wahrsager und Taxifahrer fristen, weil niemand mehr an sie glaubt und ihnen noch opfert. Unter ihnen schleiche die Angst umher, bald gänzlich dem Vergessen anheim zu fallen und so aus der Welt zu verschwinden. Doch so beschrieben stimmt das nicht, sondern entspringt einer anthropozentrischen Arroganz. Denn von regionalen Ausnahmen abgesehen, gehört es geradezu zur Jobbeschreibung von Göttern, eben keine Angst davor zu haben, was Menschen so treiben. Und wer wie Elfen, Dämonen oder Trolle sogar Kriege und Anschläge gegen die Menschen geführt hat, dem sollte man nicht leichtfertig ein Abhängigkeitsverhältnis unterstellen. Das betrifft auch die Glaubensfrage: Abgesehen von Allah, Jahwe und dem christlichen Gottvater (und einigen ihrer neumodischen Nachahmer) fordern weder Göttinnen noch vergleichbare WAPs ein, dass die Menschen an sie glauben oder sich zu ihnen bekennen. Es reicht den allermeisten, dass es sie gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht sauer reagieren, wenn man ihnen auf die Füße tritt.

Die Werkstatt als Treffpunkt für WAPs ist aber kein spiritueller Artenschutz, wir haben weder ein Götterasyl eröffnet noch einen Elfenzoo. Ebenso wenig geht es darum, schicke Gäste mit seltsamen Namen auf die Abendparty zu locken. Worum es wirklich geht, lässt sich anhand des anderen Punktes erklären, den „American Gods“ als Grund für das Verschwinden von solchen Wesen nennt: Die fehlenden Opfer. Denn das Opfer steht für all die unterschiedlichen Handlungen, durch die und mit denen sie entstehen. Erst durch unsere Handlungen werden sie nämlich zu dem, was sie sind.

Es ist ein müßiger Streit – oft ausgefochten von Christen und verkappten Christen (also Atheisten und selbsternannte Materialisten) –, ob es jetzt Göttinnen oder Gespenster „wirklich“ gibt. Wer den Ahnen und dem kleinen Volk am 1. November Milch, Wein und Pralinen herausstellt, der konzentriert sich nicht auf die Frage, ob erstere real sind. Für die, die morgens im Frühling die Fenster öffnet und einzeln die Vögel mit Namen begrüßt, ist es egal, ob Vögel selbst diese Geste so verstehen, wie wir sie verstehen. Und wer der Sonne für ihre Wärme dankt, fragt sich nicht, wie die Schallwellen die 150 Millionen Kilometer Weltraum durchqueren. Denn darauf kommt es nicht an.

Worauf es ankommt, sind die Handlungen selbst. Und wie sie zu einem schönen und guten Leben beitragen. Entscheidend ist das „Reden“, das „Danken“, das „Verhandeln“, das „Grüßen“, das „Beschimpfen“, das „Sehen“ in diesen Situationen. Wie verändern sie den Blick auf uns, auf unser physisches Umfeld, auf die Menschen vor Ort, auf die Menschen, die Tiere, Pflanzen allgemein, auf die Lebensbedingungen? Was machen diese Handlungen mit uns?

Hier sind nicht nur das Opfer oder das Gebet gemeint. Alles Mögliche kommt in Frage: Die Pflege eines Baums, die Zubereitung eines Essens, die Veranstaltung von Theaterwettbewerben, der Vortrag eines Gedichts, Geschichten, Streiche, Lieder, Küsse. Freilich nicht jedes Essen, jeder Streich und jede Geschichte. Sondern nur solche, die in explizitem Bezug zu WAPs stehen. (Dazu zählen leider auch Irrsinnstaten, etwa wenn echte oder vermeintliche Dschinnen mit Salzwasser ausgetrieben werden und dabei Menschen gequält, erniedrigt und umgebracht werden; ein Fall aus der jüngsten Presse.)

Formen der Geburtshilfe

Doch was macht den Unterschied aus zwischen schnöden Alltagshandlungen wie z.B. Zähneputzen und solchen, in denen Göttinnen oder Elfen entstehen? Wir können an dieser Stelle leider keinen Ausflug in die Philosophie machen und darlegen, wie überhaupt Dinge für Menschen entstehen. (WAPs entstehen im Prinzip nicht anders als Schwarze Löcher oder Viren.) Als erste grobe Annäherung seien hier nur die wichtigsten Eigenschaften genannt, die Handlungen zugleich erfüllen müssen, damit WAPs geboren werden:

Es handelt sich um Handlungen, die 1) in einer menschlichen Gemeinschaft hinreichend etabliert sind, 2) zwischenmenschlich abgesprochen bzw. sozial koordiniert sind, 3) solchen Handlungen des menschlichen Alltags ähneln, bei denen es ein verständiges Gegenüber gibt, und zu denen 4) in der Gemeinschaft Geschichten (Märchen, Mythen, Schauergeschichten usw.) gemeinsam gepflegt und weitergereicht werden. (Auch das Erzählen von Geschichten ist übrigens eine Handlung.) Punkt 3 klingt schwierig, lässt sich aber einfach erläutern: Man tut z.B. etwas, das eigentlich voraussetzt, dass es jemanden gibt, dem gegenüber eine offizielle Rechenschaftspflicht oder Verantwortlichkeit existiert – selbst wenn dieser Jemand niemals Berichtsformulare und Aktennotizen lesen kann, lesen will und lesen wird. Dann versteht man sofort, warum sich viele Deutsche so schwer mit WAPs tun: Wieso sollten sie eine Pflicht zur Rechenschaft gegenüber jemandem fühlen, der niemals eine Aktennotiz lesen kann?

Strenggenommen kommt eigentlich noch als Punkt 5) ein gemeinsames „Darüber Reden“ hinzu. Denn mit solchem Reden ordnet eine Gemeinschaft die Vielzahl der Handlungen und Gewohnheiten und dabei spielt ein Objekt (bzw. Gegenüber) als Unterscheidungskriterium eine zentrale Rolle. Doch der springende Punkt ist: Die Handlungen sind das entscheidende, das Gegenüber leitet sich daraus ab. Erst das Opfer, dann der Gott. Erst hinsetzen, dann Stuhl. Erst zählen, dann Zahl.

Bisweilen schildern die oben erwähnten Geschichten die Dinge zwar anders herum: Hermes z.B. – der Gott des spontanen Handelns und der vorteilhaften Entscheidung – habe das erste Saiteninstrument aus dem Schildkrötenpanzer erfunden und dann dem Apollon, Gott der schönen Künste geschenkt. Deshalb sollten wir beim Gitarrenspiel ihm ein Opfer bringen.

Doch diese Ereignisfolge ist ein Trick. Man wiederholt eine aus dem Menschenalltag leicht verständliche Erzählform: „Erst das – deshalb das“. Die Geschichte lässt sich so besser erinnern, selbst wenn die vorgelegte Begründung an den Haaren herbeigezogen wirkt. Wichtiger ist, dass solche Erzählungen beiläufig Bilder, Vergleiche, Metaphern transportieren. Auseinanderliegende Dinge und Situationen werden miteinander verknüpft und so unser Blick auf die Welt beeinflusst. Spielfilme machen nichts anderes: Die unterschiedlichen Szenen der Matrix-Filme z.B. sind für viele Menschen eine Blaupause geworden, um moderne Herrschaft, gesellschaftliche Zwänge und menschliche Selbstermächtigung zu verstehen.

Weltproletariat, Heilige Matronen und Bibliotheksgespenster

Wer dieses aus Handlungen geschaffene Gegenüber jeweils ist – das Weltproletariat oder die am Rhein wohnenden Matronengöttinnen – ist sowohl abhängig von den Handlungen des Kollektivs, dem wir uns zurechnen, als auch von dem Handlungswissen, auf das dieses Kollektiv zugreifen kann: Wer nützt am besten, um exzellent und mit Mitgefühl unseren Job als Chefchirurgin durchzuführen? Und wer hilft uns, Haus und Grundstück in Schuß zu halten? Genaue Wahl ist nötig, nicht alles paßt. Nützlichkeit ist hier nur ein Kriterium unter mehreren: Bibliotheksgespenster sind wahrscheinlich zu nichts nütze. Aber ohne sie wäre die Welt ärmer. Eingängigkeit sollte andererseits kein Kriterium sein, denn ähnlich wie bei anderen komplexen Angelegenheiten gibt es in Bezug auf WAPs viel Aberglauben und gefährliche Dummheit. Eine Schamanin, Imanin, Rabba oder Pastorin kann viel Blödsinn erzählen, wenn der Tag lang ist.

Gefühlsduselige Romantik hilft ebenfalls nicht weiter. Alte Ursprungsgöttinnen der unberührten Natur sind nicht per se „wahrer“, selbst wenn im Wald tanzende New Age-Hexen das anders sehen. Denn durch Arbeitsteilung und Spezialisierung wird unsere Zivilisation immer komplexer. Je vernetzter Handlungen von Menschen ineinandergreifen und so etwas kompliziertes wie ein Universitätskrankenhaus ins Laufen bringen, desto mehr wandeln sich unsere Lebensbedingungen. Die Handlungen, mit denen wir versuchen, gut durch das Leben zu kommen, müssen sich ändern – auch jene mit denen wir WAPs erzeugen. Bloß weil jemand eine Göttin ist, heißt das ja nicht, dass sie simpel gestrickt ist und nur einfachste Bedürfnisse kennt. Gerade für Göttinnen spielen komplexe Institutionen – Tempel, Schwesternschaften, Initiationen oder Feste – eine wichtige Rolle. Doch auch Elfen, Dämonen und Kobolde entwickeln sich weiter. (Bei Gespenstern ist das nicht ganz so klar.) In einer komplexeren Zivilisation wachsen ihre Ansprüche ebenfalls.

Wenn die Werkstatt für WAPs offen ist, dann geht es also darum, das Bewusstsein für kulturell überlieferte, komplexe und sehr verdichtete Handlungen und Handlungsmuster wachzuhalten, die zur Etablierung eines guten und besseren Lebens beitragen. Wichtig ist, diese Handlungen so weiterzuentwickeln, dass sie in einer hochgradig technisierten, arbeitsteiligen und vernetzten Gesellschaft weiterhin sinnvoll sind. Das betrifft ebenso Sprache, Rituale, Sitten, Verrücktheiten als auch Formen der bildenden oder darstellenden Künste. So kommen Menschen wie Göttinnen, Elfen und Gespenster zu ihrem Recht auf Glück.